zur Erinnerung
War die DDR bankrott?:

SED-Chefplaner Wenzel im Gespräch

Götterdämmerung im Politbüro: Als im Herbst 1989 die Bürger in Leipzig und anderswo zu Zehntausenden auf die Straße gingen, brach im Zentralkomitee Panik aus. Dabei waren die wirtschaftlichen Daten des ostdeutschen Teilstaates noch relativ stabil.

Von Jürgen Elsässer am 17. Oktober 2019

Siegfried Wenzel im Gespräch mit Jürgen Elsässer

War die DDR, wie so oft behauptet wird, Ende 1989 bankrott?

Auf den ersten Blick war unsere Lage gar nicht gut. Doch dieser erste Blick beruhte auf unvollständigen Zahlen. In der "Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen", die dem Politbüro unter Egon Krenz im Oktober 1989 von einer Gruppe verantwortlicher Wirtschaftsfunktionäre vorgelegt wurde, war die Höhe unserer Westverschuldung mit 49 Milliarden Valutamark angegeben. Der spätere Kassensturz erbrachte wesentlich niedrigere Zahlen. So wies die unverdächtige Deutsche Bundesbank in ihrem Monatsbericht vom Juli 1990 aus, dass die Nettoverschuldung der DDR nur 24,7 Milliarden Valutamark betrug - also etwa die Hälfte der Zahl, die im Oktober 1989 genannt wurde.

Ein Maßstab für einen drohenden Staatsbankrott ist das Verhältnis von Devisenschulden zu Exporterlösen, die sogenannte Schuldendienstrate. Wie sah das für die DDR Ende 1989 aus?

Mit den Valutaeinnahmen [Einnahmen aus Hartwährungsländern] konnten wir 1989 nur noch 35 Prozent der notwendigen Valutaausgaben - Kredittilgung, Zinsdienst, lebensnotwendige Importe - finanzieren. Der Rest musste durch Aufnahme neuer Kredite gedeckt werden. Da die DDR aber als verlässlicher Schuldner bekannt war, haben wir diese Kredite immer bekommen.

Statt 49 Milliarden nur 24,7 Milliarden Nettoverschuldung. Woher kommt so ein gravierender Berechnungsfehler? Chaos in der Planwirtschaft?

Keineswegs. Hauptverantwortlich für den unterschiedlichen Ausweis war die verschachtelte Unternehmens- und Kapitalstruktur des Bereichs von Alexander Schalck-Golodkowski, der Kommerziellen Koordinierung KoKo. Die KoKo hatte, ihrem Auftrag entsprechend, umfangreiche verdeckte Devisenrücklagen zur Sicherung der Staatsfinanzen und der Zahlungsfähigkeit der DDR gebildet.

Braunkohle-Tagebau Welzow bei Senftenberg. Die Ausweitung der Förderung zerstörte die Umwelt in der Lausitz, aber verringerte die Abhängigkeit der DDR von teuren Öl- und Gasimporten.
Foto: picture alliance/dpa

Hatte er also Devisen gehortet, von denen die Plankommission nichts wusste?

Wir kannten zwar die exakte Höhe nicht, aber die Existenz einer verdeckten Kasse selbst war nicht nur bekannt, sondern sogar erwünscht. Schalck-Golodkowski hatte den Auftrag, einen Rücklagenfonds anzulegen. Wenn Devisen zur Beschaffung notwendiger Investitionsgüter fehlten, ist er häufig eingesprungen. Als Anfang 1980 die sozialistischen Länder in eine Schuldenfalle zu laufen drohten, waren seine Rücklagen sehr wichtig für die Aufrechterhaltung unserer Zahlungsfähigkeit. Die vom Bereich KoKo erwirtschafteten Mittel - sowie die Einnahmen aus Zahlungen der BRD wie beispielsweise aus der Transitpauschale - beliefen sich anfangs auf 700 Millionen Valutamark jährlich, danach regelmäßig auf zwei Milliarden.

Warum hat sich Schalck im November 1989 nicht gemeldet und das Politbüro mit der Mitteilung beruhigt, er habe noch etliche Milliarden in petto?

Hat er. Er informierte noch im November 1989 gemeinsam mit der stellvertretenden Finanzminis-terin Herta König den neuen Ministerpräsidenten Hans Modrow über die geheim gehaltenen Reserven der KoKo.

Nach dieser Unterrichtung ging die Modrow-Regierung nicht mehr von 49, sondern von 38 Milliarden Valutamark Westschulden aus - immer noch sehr viel mehr als die 24 Milliarden, die dann im Juli 1990 die Bundesbank errechnete. Hat Schalck-Golodkowski etwas verschwiegen?

Dass das von ihm kontrollierte Devisenvermögen schließlich noch größer war als von ihm im November 1989 angegeben, könnte einen ganz profanen Grund gehabt haben: Oft kommt erst bei einer Totalinventur wirklich alles auf den Tisch. Die aber ist unter den Bedingungen eines laufenden Betriebes und sich überstürzender Ereignisse schwer möglich.

War die DDR nicht schon 1983 bankrott? Ohne den von Franz Josef Strauß damals vermittelten Kredit hätte sie doch gar nicht durchhalten können, oder?

Zwischen 1981 und 1985 hat sich unsere Westverschuldung nicht erhöht. Zeitweise wurden jährliche Exportüberschüsse von zwei Milliarden Valutamark erzielt. Wie wenig wir damals in der Klemme waren, zeigt der Umstand, dass wir den Kredit der Kohl-Regierung, der auf den von Strauß vermittelten folgte, nur zu einem Drittel in Anspruch nahmen.

Warum ist die DDR dann überhaupt auf die Strauß-Offerte eingegangen?

Ein Kredit wie dieser, der zu normalen beziehungsweise sogar günstigen Bedingungen gewährte wurde, ist immer etwas Positives, und wenn er nur zur Ablösung ungünstiger anderer Kredite eingesetzt werden kann. Ich glaube aber, es waren vor allem politische Motive: Über den Kredit wurden die deutsch-deutschen Beziehungen befördert, Honecker - und übrigens auch Strauß - brachten sich so als Entspannungspolitiker ins Gespräch.

Erich Honecker war für die letztlich gefährliche Schuldenmacherei im westlichen Ausland verantwortlich. Stiegen nicht die Valutamark-Schulden in seiner Amtszeit von zwei Milliarden 1970 über elf Milliarden 1975 auf 28 Milliarden 1980?

Strauß und Honecker bei der Vereinbarung des Milliardenkredits im Juli 1983: Dass der Bayer der DDR eine Finanzspritze gab, ließ viele seiner Anhänger vom Glauben abfallen Aus Protest bildete sich aus enttäuschten CSU-Leuten die Republikaner-Partei.
Foto: picture-alliance / Sven Simon

Aber gleichzeitig hätte doch ab 1986 auch der Preis für das sowjetische Öl um die Hälfte fallen müssen - und damit wäre der Verlust mehr als ausgeglichen gewesen, denn die DDR-Ölimporte waren ja fast doppelt so hoch wie die -exporte.

Der Preis für das importierte sowjetische Erdöl blieb leider konstant, weil es zwar eine Vereinbarung im RGW [Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, das Pendant zur EU im Ostblock] gab, dass sich die Erdöl-und Erdgaspreise an den Weltmarktpreisen orientierten, diese Anpassung aber jeweils nur schrittweise über einen Zeitraum von fünf Jahren wirksam wurde.

Mit anderen Worten: Die DDR war zwar 1989 nicht bankrott, wäre es aber ein paar Jahre später gewesen?

Schon 1986, mit der Ausarbeitung des Fünfjahrplanes 1986 bis 1990, wurde klar, dass der Preisverfall bei Erdölprodukten nicht auszugleichen war. Auf Unterstützung aus der UdSSR konnten wir auch nicht hoffen. So reifte der Gedanke, dass die DDR nur in einer Art Konföderation mit der BRD eine Zukunftschance haben könnte. Als ich mich unter vier Augen gegenüber dem Vorsitzenden der Plankommission Gerhard Schürer 1986 entsprechend äußerte, nahm er das schweigend zur Kenntnis - er widersprach mir aber auch nicht. 1988 wurde diese Frage in einem Gespräch zwischen Schürer und Schalck-Golodkowski erörtert, zu dem ich hinzugezogen wurde. Leider gab es in der SED-Spitze nur begrenzt Ansprechpartner für solche Gedanken. Wir rechneten mit ernsthaften Zahlungsengpässen etwa ab dem Jahre 1991. Wir schätzen, dass wir zur Sicherung der Liquidität einen Bonner Kredit in Höhe von zwei bis drei Milliarden Valutamark brauchen würden. Der Kollaps für das Jahr 1989/90 ist also herbeigeredet und sollte nur die überfallartige Währungsunion und den Anschluss an die BRD rechtfertigen; aber im Prinzip gab es wirtschaftlich zu einer stufenweisen und langsamen Vereinigung, wie sie dann Modrow Anfang Februar 1990 mit dem Programm "Deutschland einig Vaterland" vorschlug, keine Alternative.

- Siegfried Wenzel [1929-2015] war von 1955 bis 1989 Mitglied der Staatlichen Plankommission der DDR. Von 1950 bis 1952 und von 1955 bis 1989 war er Steilvertretender Vorsitzender und bis zuletzt verantwortlich für den Bereich Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung und Plankoordinierung. Seine Erfahrungen hat er in dem Buch "Plan und Wirklichkeit. Zur DDR-Ökonomie, Dokumentation und Erinnerung" (Scripta Mercaturae Verlag, St. Katharinen 1998) niedergelegt. Das Interview wurde 1998 geführt.


Quelle: compact-online


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